Neuanfang des Theologischen Seminars Friedensau am 1. Juli 1947

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In seinem Buch "Sternstunden der Menschheit" zeichnete Stefan Zweig zwölf historische Geschehnisse auf, von denen die Weltgeschichte nachhaltig beeinflusst wurde. Auch für den kleinen von Siebenten-Tags-Adventisten bewohnten Ort Friedensau bei Magdeburg gab es solch eine Sternstunde, als am 1. Juli 1947 das Theologische Seminar wieder eröffnet werden konnte.

In den letzten Tagen des 2. Weltkrieges hatten sowjetische Kampftruppen auch Friedensau besetzt. Hier befand sich seit 1942 ein von der Deutschen Wehrmacht eingerichtetes Kriegslazarett. Von daher war für die Russen Friedensau ein militärisches Objekt. In den folgenden zwei Jahren blieben die Hauptgebäude fest in der Hand der Sowjetarmee, die darin ebenfalls ein Lazarett eingerichtet hatte. Es war von einem hohen Stacheldrahtzaun umzäunt mit einem einzigen Tor, vor dem Tag und Nacht Posten standen. Nur wer dort arbeitete fand Eingang.

In dieser Zeit gab es einen bescheidenen Mann, der es nicht für möglich hielt, etwas Entscheidendes für Friedensau bewirken zu können. Er hieß August Birsgal und war ein Pastor aus Lettland, der während des Krieges 1940 als Flüchtling mit seiner Familie in Friedensau untergekommen war. Begegnete er russischen Soldaten oder Offizieren außerhalb des Sperrgürtels, rief er ihnen in ihrer Sprache einige freundliche Worte zu. So kam es, dass der sowjetische Kommandant ihn bei Bedarf als Dolmetscher holen ließ. Als August Birsgal hörte, dass der Sohn dieses Offiziers ernstlich erkrankt war, besorgte er für ihn aus dem Westen Antibiotika. All das bewirkte, dass sich das Verhältnis des Kommandanten zu Friedensau nachhaltig besserte. Er versprach sogar seine Hilfe für eine eventuelle Freigabe Friedensaus. Durch seine Vermittlung konnten Ende 1946 die ersten Kontakte zur Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration aufgenommen werden – zunächst allerdings ohne Ergebnis.

Anfang 1947 kam es dann zu Gesprächen des Vorstehers der ostdeutschen Adventisten und des Seminarleiters mit dem Leiter der Kulturabteilung, Oberst Tulpanow. August Birsgal dolmetschte geschickt in freier Weise, denn er kannte die russische Mentalität. Das bewirkte ein gutes Gesprächsklima. Nach Auflösung des Lazarettes im April 1947 erteilte Oberst Tulpanow bald darauf die schriftliche Genehmigung zur Wiedereröffnung des Theologischen Seminars, die dann vom Ministerpräsidenten der provisorischen Verwaltung von Sachsen-Anhalt bestätigt wurde.

Friedensau war die erste und einzige kirchliche Ausbildungsstätte, die nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone wieder eröffnet wurde. Aus den erst vor wenigen Jahren freigegebenen Geheimdokumenten der Sowjetischen Militäradministration geht hervor, dass diese Entscheidung den Direktiven der Kirchenpolitik Moskaus für die besetzten Länder widersprach.

Ende Mai 1947 verließen die letzten russischen Soldaten Friedensau. Fast das gesamte Inventar wurde mitgenommen. Die Gebäude befanden sich nach zwei Jahren Besatzung in einem verheerenden Zustand: Fenster teilweise ohne Scheiben, Türklinken abmontiert, Sanitäranlagen verstopft, Heizung nicht mehr funktionsfähig.

In nur wenigen Wochen gelang es, einige Räume in der Alten Schule, dem heutigen Otto-Lüpke-Haus, notdürftig herzurichten und das allernotwendigste Inventar herbeizuschaffen. In den Aufzeichnungen des Seminarleiters Walter Eberhardt Ende Juni 1947 ist zu lesen: "Eine notdürftige Ausrüstungseinrichtung für den Seminarbeginn ist vorhanden."

So begann am 1. Juli 1947 nach einer kurzen gemeinsamen Andacht der Unterricht mit vier Lehrkräften und 18 jungen Leuten; fast alle waren als Soldaten aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt. Wenige Tage später wurde die Kapelle, während der russischen Besatzung ein Kino- und Tanzsaal, wieder für gottesdienstliche Zwecke geweiht, nachdem sie notdürftig hergerichtet worden war.

Die äußeren Bedingungen zur Wiederaufnahme des Lehrbetriebes waren mehr als kümmerlich. Als ehemalige Kriegsteilnehmer hatten Lehrkräfte und Studenten jedoch gelernt, anfangs ohne Lehrbücher in unbeheizten Räumen und mit hungrigem Magen fertig zu werden.

Die Genehmigung zur Ausbildung von Pastoren unter einem kommunistischen Regime war ein Wunder Gottes, bei dem er sich Menschen bediente, die Mut zu bescheidenen Anfängen hatten. Bereits ein Jahr später erhielt das Theologische Seminar die Erlaubnis, ein einjähriges Diakonstudium für junge Leute aus den Gemeinden anzubieten.

Nach Gründung der DDR 1949 setzten die zuständigen Ministerien und Behörden in allen Bildungseinrichtungen, auch im kirchlichen Bereich, ihren weltanschaulich politischen Einfluss auf die Lehrpläne durch. In Friedensau konnte das mit dem Hinweis auf die Genehmigung durch die sowjetische Militäradministration stets abgewehrt werden. So gab es am dortigen Theologischen Seminar in vier Jahrzehnten keinerlei Kontrolle bezüglich der Lehrinhalte durch die DDR-Behörden. Im Vergleich mit anderen kirchlichen Institutionen hatten die Adventisten mitunter den Eindruck, einen Sonderstatus zu haben.

Der Hinweis auf die Genehmigung durch die sowjetische Militärregierung trug auch dazu bei, dass ab 1982 nach entsprechenden Verhandlungen bis zu zwanzig ausländische Studenten, vor allem aus den sozialistischen Ländern Osteuropas und Afrikas, in Friedensau ein Theologiestudium aufnehmen durften. Nicht wenige von ihnen haben heute leitende Aufgaben in ihren Heimatländern.

Die Genehmigung der sowjetischen Militärregierung erwies sich in den vierzig Jahren der DDR als eine einzigartige Weichenstellung. Sie bescherte den Adventisten Möglichkeiten, die anderen Kirchen in dieser Weise nicht gegeben waren. Mehr als 3.200 junge Leute studierten bis zur Wiedervereinigung am Theologischen Seminar, um sich für den Dienst als ehrenamtliche Diakone in den Gemeinden oder als Pastoren ausbilden zu lassen.

Das Theologische Seminar Friedensau erlangte unter den kirchlichen Ausbildungsstätten einen guten Ruf. Die staatliche Anerkennung als Theologische Hochschule im September 1990 wäre ohne die sowjetische Genehmigung kaum denkbar gewesen. Der 1. Juli 1947 erwies sich für Friedensau als eine Sternstunde.

Dr. Manfred Böttcher

(Hinweis der Redaktion: Dr. h. c. Manfred Böttcher war von 1969 bis 1982 Präsident der Siebenten-Tags-Adventisten in der DDR und von 1982 bis 1991 Rektor des Theologischen Seminars Friedensau.)