"Ärzte, die sich für Patienten Zeit nehmen, sind Helden"

Bielefeld | APD

Bielefeld, 30.03.2014/APD "Wir haben keine Zeit" klagen Ärzte und Pflegende, die sich zunehmend unter Druck fühlen, mit weniger finanziellen Mitteln mehr bewirken zu sollen. „Die zunehmende Ökonomisierung führt zur Abschaffung der Zeit“, betonte der Freiburger Medizinethiker Professor Dr. Giovanni Maio beim 4. Christlichen Gesundheitskongress in Bielefeld. Immer stärker werde auch im Gesundheitswesen in erster Linie nach Geld gefragt. Ärzte, die sich trotz knapper Geld- und Zeitressourcen für ihre Patienten Zeit nähmen, seien "geradezu Helden", meinte Maio. Er berät die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz und die Bundesärztekammer. Wenn Pflegende und Mediziner auch über die budgetierten Zeiten hinaus da sein wollten, müssten sie oft in einen Streit mit den Strukturen des Gesundheitswesens eintreten.

Gesundheit ist keine Ware
Maio kritisierte das Missverständnis, dass im Gesundheitswesen Gesundheit produziert werde, wie in der Industrie Waren hergestellt würden. Für die Heilung sei es viel wichtiger, dass Beziehungen entstünden. Um gute Beziehungen zwischen Arzt und Patient entstehen zu lassen, wäre eine Aura nötig, in der solche Beziehungen gedeihen könnten.

"Wir müssen eine Zeitkultur entwickeln, die nicht restlos verplant ist", forderte der Medizinethiker. Außerdem sei eine Kultur der Aufmerksamkeit notwendig, der Fähigkeit, sich für den anderen zu öffnen. Dabei würde sich immer wieder zeigen, dass der Mensch ein Geheimnis sei, das entdeckt werden müsse, wenn es zu hilfreichen Begegnungen kommen solle. Weiter ermutigte der Referent die Kongressteilnehmer, zu etwa zwei Drittel Pflegende, dass sie sich jeden Tag von ihren Patienten überraschen lassen sollten. Nur so könne man vermeiden, von "aussichtslosen Fällen" zu sprechen. Jeder Tag könne eine Wendung zum besseren bringen oder selbst als guter Tag empfunden werden. Wenn Mitarbeiter ihren Patienten mit Wertschätzung begegneten, könnten sie "das Leben selbst als etwas Bereicherndes entdecken".

Trend zur Industrialisierung im Gesundheitswesen
Ebenfalls vor eine Überbetonung der Ökonomie warnte Irmgard Bracht, Düsseldorf. Die evangelische Theologin und Altenpflegerin kritisierte den Trend, zur Industrialisierung im Gesundheitswesen. Die heute in der Mitarbeiterfortbildung tätige Referentin fordert stattdessen: "Wir sollten für unsere Patienten da sein, auch dann wenn schon alles getan ist." Bracht warb dafür, die schönen Seiten der Pflege nicht zu verschweigen und stattdessen das Klagelied vom Pflegenotstand anzustimmen. Es sei ein Privileg, anderen zu helfen, in Würde zu leben und sterben zu können.

Um den Mitarbeitenden in der Pflege das Bleiben im Beruf zu erleichtern, müssten Kliniken und Heime hilfreiche Strukturen schaffen, in denen die Pflegenden ihre Arbeit als bedeutend erlebten. Im Gegensatz dazu beobachte die Pflegefachfrau, dass häufig die Angst regiere: Die Angst der Mitarbeiter, etwas falsch zu machen. Die Angst von Kranken unmenschlich behandelt zu werden. Diesen Ängsten könne man nur durch Vertrauen begegnen.

Um den Pflegeberuf attraktiv zu gestalten, müsse er nicht nur besser bezahlt werden. Pflegende müssten auch stolz sein auf ihren Beruf, in dem sie große Verantwortung im fachlichen und zwischenmenschlichen Bereich tragen. Schließlich forderte sie ein stärkeres berufsständisches Engagement der Pflegenden, wie sie in der Bildung von Pflegekammern zum Ausdruck käme.

Es ist unanständig, Leistung zu fordern aber nicht zu finanzieren
In der anschließenden Podiumsdiskussion wurden die finanziellen Probleme deutlich, die sich vor allem im Pflegebereich aber auch zum Beispiel bei den Hebammen bemerkbar machten. "Der Berufstand der Hebammen wird auf dem Altar der Einsparungen geopfert", warnte Reinhild Bohlmann, Hofgeismar, vom Bundesverband freiberuflicher Hebammen. Sie erinnerte daran, dass die gegenwärtige Gesundheitspolitik das Haftpflichtrisiko außer Acht lasse, durch das Hebammen keinen Versicherungsschutz mehr hätten.

Dr. Annette Meussling-Sentpali, München, beobachtet als Folge des Pflegemangels eine zunehmende Deprofessionalisierung. Die eigentliche Zuwendung zum Patienten werde immer öfter billigeren Hilfskräften übertragen, deren fehlende fachliche Qualifikation die Betreuungsqualität einschränke. Die Pflegewissenschaftlerin forderte mehr Investition in fachliche Qualität und eine "Zuwendung des Herzens". Um diese zu fördern, sei ein gutes Team nötig, erklärte der Leiter einer psychotherapeutischen Fachklinik, Dr. Rolf Sens. Er berichtete von guten Erfahrungen mit einer täglichen Mitarbeiterandacht, die helfe, mit großer Hoffnung auch schwierigen Patienten begegnen zu können.

Der Hauptgeschäftsführer des Albertinen-Diakoniewerkes in Hamburg, Cord Meyer, plädierte für einen anderen Umgang mit den Finanzen. "Es ist unanständig, bessere Versorgung zu fordern aber keine Finanzen zur Verfügung stellen."
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