Verschwörungstheorien: „Wer nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles“

Flyer zur Tagung – Gestaltung: Marielle Lüthy, Neue Kantonsschule Aargau

© Foto: Herbert Bodenmann/APD Schweiz

Verschwörungstheorien: „Wer nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles“

Zürich/Schweiz | APD

Am 9. November veranstaltete die Kommission Neue religiöse Bewegungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (NRB/SEK) in Zürich eine Tagung zu Verschwörungstheorien. Sie stand unter dem Thema: „Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Staatsverweigerer als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft“. Die Referenten und Workshopleiter behandelten die Thematik aus psychologischer, soziologischer und theologischer Perspektive. Verschwörungstheoretiker bedienten sich zwar wissenschaftlichen Ausdrucksweisen, ließen sich aber mit rationalen Argumenten von ihrem Verschwörungsglauben nicht abbringen, weil ihnen ihre Weltsicht in einem komplexen Umfeld Durchblick, Halt und Sicherheit biete. Deshalb verbreiteten sie ihre Theorien mit missionarischem Eifer.

Verschwörungstheorien: eine säkularisierte Form von Aberglauben?
Verschwörungsgläubige legten einen missionarischen Eifer an den Tag, wenn es um die Verbreitung ihrer Theorien gehe, sagte Dieter Sträuli, Psychologe und Vorstandsmitglied von infoSekta. Er fragte, ob Verschwörungstheorien eine säkularisierte Form von Aberglauben seien, eine Art von Ersatzreligion. Sträuli erläuterte, dass Verschwörungstheorien ihre Wurzeln in der Struktur einer Person hätten.

Wie lassen sich Verschwörungstheorien gesellschaftlich erklären?
Christian Ruch, Historiker und Soziologe, definierte in seinem Workshop eine Verschwörung als eine Handlung von mindestens zwei Personen, die sich im Verborgenen auf ein Ziel einigen, das nur im Verborgenen erreicht werden könne und oft die Veränderung der Machtstruktur zum Ziel habe. Verschwörungstheorien seien keine Erscheinung der Neuzeit, so Ruch. 1348 wären die Juden im Zusammenhang mit der Pest der Brunnenvergiftung bezichtigt und verfolgt worden. „Hexen“ seien für Missernten verantwortlich gemacht und umgebracht worden. Neu sei heute die Verbreitungsgeschwindigkeit von Verschwörungstheorien.

Dass Verschwörungstheorien zunehmend auftreten würden, bezeichnete Ruch als „Symptome von Unsicherheit und Angst“ in Krisenzeiten. Das gesellschaftliche Urvertrauen in die Institutionen sei am Schwinden und mache einem Urmisstrauen Platz. Hinzu komme, dass das Mehr an Wissen eine hochkomplexe Lebenswelt und Gesellschaft schaffe, was diese kaum durchschaubar mache. Anhänger von Verschwörungstheorien seien hyperrational, weil sie überall Sinn und Absicht sehen würden und auch in zufälliges Geschehen Absicht hineininterpretierten, so der Soziologe. „Verschwörungstheoretiker kennen keinen Zufall“, erklärte Ruch. Auch dass es verschiedene Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten geben könne, werde von ihnen geleugnet.

Staatsverweigerer und ihre Vernetzung
Staatsverweigerer lehnten staatliche Strukturen ab, sagte der freie Journalist Raimond Lüppken in seinem Workshop. Begründet werde dies damit, dass Gesetze für „Personen“ gemacht, sie aber „Menschen“ seien. Er erwähnte zur Illustration die „Reichsbürger“ in Deutschland und „Anastasia“, eine in Russland gegründete New-Age-Bewegung. Viele Staatsverweigerer lehnten es ab als Rassisten bzw. Antisemiten bezeichnet zu werden. Sie seien Ethnopluralisten, die für die kulturelle Reinerhaltung von Gesellschaften eintreten würden und die Vermischung der Ethnien ablehnten. Laut Lüppken lehnten viele Staatsverweigerer auch das Impfen ab, seien gegen staatliche Schulen, setzten sich für die klassische Rollenverteilung von Mann und Frau ein und hätten Angst vor „Umvolkung“, wie dies durch die gelenkten „Flüchtlingsströme“ geschehe.

Im Sinnlosen Sinn finden?
Dr. Matthias Pöhlmann, Theologe sowie Vorsitzender der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), beschäftigte sich in seinem Referat mit theologischen Unterscheidungskriterien zum Verschwörungsglauben. Für Pöhlmann handelt es sich beim Verschwörungsglauben um eine globalisierte Version einer Religion. Zufall und Chaos in der Welt schaffe Unerklärliches, womit sich Verschwörungsgläubige nicht abfinden wollten und Schuldige bzw. sinnvolle Welterklärung und Gesetzmäßigkeiten suchten.

Es handle sich dabei um die Verweltlichung eines Aberglaubens, und die Verschwörungstheorie werde zu einer Ideologie, so der EKD-Kirchenrat. Es werde von einer „neuen Weltordnung“ mit der Etablierung einer globalen Elite gesprochen. Verschwörungsmythen entstünden, wenn Menschen keine Teilhabe mehr an Entscheidungsprozessen hätten bzw. Regierende und Regierte sich voneinander entfernten. Verschwörungsgläubige sähen sich laut Pöhlmann als Wissende und Aufgeweckte, die Mehrheit der Bevölkerung als Unwissende. Da es für sie keinen Zufall gebe, erklärten sie das Böse mit skrupellosen Verschwörern. Verschwörungstheorien seien selbstimmunisierend, verallgemeinernd und gefährlich, da sie Sündenböcke suchten.

Der Theologe bezeichnete den Verschwörungsglauben als eine „schlecht säkularisierte Theologie“. Die Theodizee, also die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt, werde auf Menschen als Verursacher umgemünzt und erklärt. Es werde nicht mehr gefragt, weshalb Gott dies oder jenes zulasse, sondern: ‚Weshalb passiert mir dies?‘ und dann werde ein Sündenbock gesucht. Verschwörungsgläubige verstünden sich als Aufklärer einer hinters Licht geführten Bevölkerung, agierten äußerst missionarisch, wobei sich das Internet als idealer Multiplikator anbiete, sagte der Theologe.

Demnach bestehe für Christen eine zweifache Aufgabe im Umgang mit Verschwörungsgläubigen. Man müsse den Dialog suchen und die „Geister unterscheiden“. Es brauche sowohl eine religions- und weltanschauliche Aufklärung als auch Seelsorge, so Pöhlmann. Benötigt werde „Götzenkritik“ an dieser säkularisierten Ideologie, da der Verschwörungsglaube eine „Vergöttlichung des Weltlichen“ und somit eine Übertretung des ersten Gebots sei. Es handle sich um einen „versekteten Verschwörungsglauben“, der auf Täuschung fuße und zu Enttäuschung führe. Es gehe dabei immer auch darum, die Ängste und Motive des Verschwörungsglaubens ins Auge zu fassen, um Menschen entsprechend zu begleiten und die Abkehr zu ermöglichen, sagte Pöhlmann. Dass bei gewissen Menschen aus einer Verschwörungstheorie ein Ersatzglaube werden kann, fasste Matthias Pöhlmann so zusammen: „Wer nichts mehr glaubt, glaubt am Ende alles.“