Buchrezension: Adam Tooze: Welt im Lockdown / Niall Ferguson: Doom

Buchrezension: Adam Tooze: Welt im Lockdown / Niall Ferguson: Doom

Ostfildern | APD

Zwei bekannte englischsprachige Wirtschaftshistoriker versuchen sich an der großen Krise, die vor über zwei Jahren losbrach. Während Ferguson sich im ersten Corona-Lockdown noch in einem Blockhaus in Montana verschanzte und die Ereignisse aus der Distanz heraus aufschrieb, schrieb Tooze, der ein halbes Jahr von der Columbia University beurlaubt war, sein Buch mitten in Manhattan, New York, einem Epi-Zentrum der Krise. Auch wenn das Thema ähnlich klingt, ist doch die Perspektive jeweils unterschiedlich. Einmal werden Lehren gezogen, das andere Mal die Folgen genauer betrachtet. Die These der Autoren: Die Menschen können und sollen aus der Katastrophe lernen, ihre „Antifragilität“ stärken (Ferguson, S. 482) und ihre Krisenbekämpfung verbessern (Tooze, S. 340).

Autor Adam Tooze

Finanzexperte Adam Tooze ist auch Professor für Geschichte an der Columbia University und konzentriert seine 408-seitige Darstellung auf die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Folgen. Er stellt in vier Teilen Bezüge zu anderen großen Krisen unserer Zeit her, beispielsweise der Finanz- und Klimakrise. Dabei beschreibt er kenntnisreich das Jahr 2020 und wie einzelne Staaten jeweils versucht haben, politisch wie ökonomisch die Krise zu bewältigen. Die Krise wird in drei Teilbereiche zerlegt: ökologisch, institutionell und global. Tooze ist ein Meister der kausalen Zusammenhänge und sein Buch liest sich stellenweise spannend wie ein Krimi. Er berichtet kritisch und bewertet schonungslos die Lage: die USA sind seiner Meinung nach Krisenverlierer im Gegensatz zu China, das als Krisengewinner eingestuft wird. Ein umfangreicher Anhang mit Literaturverzeichnis und Anmerkungen komplettiert diese detailgenaue Studie zu den globalen Folgen der Corona-Pandemie.

 Autor Niall Ferguson

Der schottische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson referiert in elf Kapiteln mit Einleitung und Schluss über die Geschichte von Katastrophen, seien sie geologischer, geopolitischer, biologischer oder technischer Natur. Die Rolle des Menschen nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. Es werden Themen wie der Tod, die Weltvernetzung, die Rolle der Wissenschaft, politische Unfähigkeit und wirtschaftliche Folgen angeschnitten. 2000 Jahre Seuchengeschichte werden eklektizistisch aufgeführt. Die Großmacht China nimmt ebenfalls eine bedeutende Stellung im letzten Kapitel ein. Unterhaltsam, fast literarisch, lesen sich Fergusons Ausführungen, die manchmal etwas weitschweifig ausfallen. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Katastrophen nicht vorhergesagt werden können, sondern Wachstumschancen sind. Der Anhang mit Anmerkungen und Register ist fast 100 Seiten stark.

Zum Punkt

Beide Bücher haben die Form „großer Erzählungen“ (Tooze, S. 342), die ausführen, dass sich Natur- und Menschheitsgeschichte nicht trennen lassen. Beide Autoren bemühen die Bilder des grauen Nashorns (absehbare Katastrophen) und des schwarzen Schwans (überraschende Katastrophen). Doch aufgrund der damaligen Aktualität erscheinen die zugrunde gelegten Daten heute veraltet. Die Welt hat sich weitergedreht. Detailfülle und Faktenreichtum zeigen die Brillanz der Wissenschaftler, doch der Überblick leidet dadurch zwangsläufig. Auch die These der Verbesserung der Krisenbekämpfung durch Reflexion und der Auseinandersetzung mit Macht und Wissen klingt vor dem Hintergrund der dargestellten Katastrophen etwas hilflos.

Interessant zu beobachten ist, dass beide Autoren den großen Bogen vom kleinen Virus in die globalen Zusammenhänge schlagen. Sie nutzen bei ihren Ausführungen beides: Brennglas und Fernglas. Dabei wird stets die geopolitische Lage mit den derzeitigen Großmächten wie der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten und China thematisiert und bewertet. Während Tooze allerdings China als Gewinner ausruft, ist Ferguson vorsichtiger mit dem „Abgesang auf die Vereinigten Staaten“. Doch der Gefahr eines neuen kalten Krieges (mit China) sehen sich beide Autoren gegenüber.

Tatsächlich aber wurde der russische Präsident Putin als Hauptkonflikttreiber von Tooze bereits in die Vergangenheit befördert (Tooze, S. 331). 2022 stellen sich die Tatsachen jedoch anders dar und bestätigen Fergusons Aussage: „…einige der schlimmsten … Katastrophen [wurden] von totalitären Regimen verursacht“ (Ferguson, Einleitung).

Der Ukrainekrieg drängt die Pandemie beiseite, und angesichts der vierten, fünften und sechsten Pandemie-Welle lesen sich die Bücher mit leichtem Wehmut. Wer damals gehofft hatte, dass sich alles beruhigen würde, musste eines Besseren belehrt werden. Denn „wir [sollten] große Katastrophen fürchten, allem voran Pandemien und Kriege, die der Menschheit in ihrer Geschichte am meisten zu schaffen gemacht haben“ (Ferguson, Einleitung). Jetzt haben wir beides.

Claudia Mohr

Die Rezension kann als Dokument heruntergeladen werden: https://www.apd.info/wp-content/uploads/2022/06/Rezension-Ferguson-Tooze.pdf