Kommentar zum Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) vom 3. November 2009
Am 3.11.2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einer in Italien lebenden Familie Recht gegeben, die sich gegen die Anbringung von Kruzifixen in öffentlichen Schulen gewandt hatte. Nach der Wertung des Gerichtshofs ist ein derartiges Symbol nicht lediglich ein von allen hinzunehmender Ausdruck von Tradition, sondern ein Zeichen, das einer bestimmten (Mehrheits-)Religion zuzuordnen ist, und wenn es in öffentlichen Schulen angebracht ist, die staatliche Neutralitätspflicht verletzt sowie die negative Religionsfreiheit derer, die sich nicht mit diesem Symbol identifizieren können.
Dieser Fall und das Echo darauf haben deutlich gemacht, dass das Thema der Religionsfreiheit in der Öffentlichkeit nach wie vor Zündstoff bietet. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hatte sich bereits 1995 mit einer vergleichbaren Situation in Bayern zu beschäftigen und die dortige Kruzifixregelung beanstandet. Anders als der für seine laizistische Sichtweise bekannte Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte das Bundesverfassungsgericht den Focus auf eine "praktische Konkordanz" der beteiligten Grundrechtspositionen gelegt. Danach muss die positive Religionsfreiheit derjenigen, die ein religiöses Symbol in öffentlichen Räumen befürworten, abgewogen werden gegen die negative Religionsfreiheit derer, die von religiösen Bezügen weitgehend verschont werden wollen. Es komme darauf an, eine Lösung zu finden, die nicht einer Position zur maximalen Geltung verschaffe, sondern einen möglichst schonenden Ausgleich aller beteiligten Grundrechtsgüter herbeiführe. In Folge dieser Rechtsprechung kam es nicht zu einer Abschaffung der Kruzifixe an bayerischen Schulen, sondern zu einer Änderung des Schulgesetzes, welches nun eine Widerspruchsmöglichkeit für den Einzelfall vorsieht.
Unter Anwendung der Prinzipien der "praktischen Konkordanz" hatte unlängst das Berliner Verwaltungsgericht zugunsten eines muslimischen Schülers entschieden. Er darf nun während der Pause sein Gebet verrichten und erhält hierzu einen besonderen Raum zugewiesen. Die heftigen Reaktionen auf dieses Urteil haben gezeigt, wie schwierig der Umgang mit religiösen Bedürfnissen in der Öffentlichkeit sein kann und welche Ängste geweckt werden. Das ist besonders dann der Fall, wenn Minderheiten betroffen sind, die ihre Rechte geltend machen. Hier gilt es einen besonnenen Mittelweg zwischen den Extrempositionen der Unterdrückung aller religiösen Bezüge einerseits und der Verquickung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften andererseits zu finden.
Dr. Harald Mueller
(Hinweis der Redaktion: Der Jurist Dr. Harald Mueller leitet das Institut für Religionsfreiheit an der adventistischen Theologischen Hochschule Friedensau bei Magdeburg.)
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