Zwei neuere Bücher versuchen wieder einmal, der amerikanischen DNA auf die Spur zu kommen, und liefern durchaus interessante Einblicke und Zusammenhänge, über die es sich nachzudenken lohnt. Der renommierte amerikanische Kulturjournalist Kurt Andersen, dessen Buch Fantasyland vor einiger Zeit als Taschenbuch erschienen ist, erzählt meisterhaft vom Scheitern des großen amerikanischen Experiments, das die Grenze zwischen Illusion und Realität so durchlässig gemacht hat, dass Disneyland heute glatt als Regierungssitz durchgehen könnte. Der deutsche Journalist und USA-Korrespondent Hubert Wetzel widmet sich in seinem Buch Amerika. Land der unbegrenzten Widersprüche mit ebenso viel Sympathie wie Unverständnis den landestypischen Eigenheiten und lokalen Schlaglöchern eines Landes auf dem Weg in die totale Freiheit.
Kurt Andersen: Fantasyland
Andersens These ist einfach. „Amerika wurde von wahren Gläubigen und leidenschaftlichen Träumern gegründet … Das hat uns im Laufe von vierhundert Jahren empfänglich gemacht für alle mögliche Fantasien“. Heute seien Realität und Fantasie auf völlig irre und gefährliche Art ineinander übergegangen und miteinander verschmolzen (S. 28). Die Fantastereien seien jedweder Natur, doch vor allem christlicher Art, vermischt mit Aberglauben, Okkultismus, magischen Volksmythen, Hellseherei und Prophetie. Und hier liegt das Problem: Die übermäßigen Fantasy-Cocktails haben die Nation manisch und hysterisch werden lassen. „Anders gesagt, kostet uns das Ganze sehr wohl etwas und tut uns sehr wohl weh“ (S. 508). Amerika strauchele und müsse dringend wieder nüchtern werden. Doch stattdessen steuerten alle auf das dritte „große Delirium“ zu, nach den ersten beiden Erweckungsbewegungen im 18. und 19. Jahrhundert.
Andersen macht vor allem die gesteigerte Religiosität der Amerikaner in Vermischung mit Pseudowissenschaft für den fortschreitenden Rationalitätsverlust verantwortlich. Historisch führt er William Miller und Nelson Darby an, die biblische Endzeitszenarien in den Herzen amerikanischer Christen verankerten (S. 107). Anschließend werden gängige Konfessionen mit bekannten religiösen Leitfiguren und deren Beitrag zum illusorischen Komplex kritisch beleuchtet. Mormonen, Shaker, Charismatiker und andere evangelikale Gruppen werden mit ihren spirituellen Zutaten für die „magische Suppe“ dargestellt, die als Hauptzutat die nach wie vor aktuelle Endzeiterwartung der amerikanischen Gläubigen prägt. Auch die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten hat es mit Ben Carson in eine kritische Fußnote geschafft.
Ebenso kritisch wird der Reiz der Esoterik mit allen möglichen Ablegern wie Heilsteinen und UFO-Entführungen erwähnt. Auch der Goldrausch habe großen Einfluss auf die heutige Wirklichkeitsvorstellung gehabt. Heute ist diese unrationale Geisteshaltung in allen Lebensbereichen angekommen: Politik, Medizin, Immobilien, Lifestyle. Ein großer Teil der amerikanischen Realität sei virtuell geworden. Andersen beklagt den Verlust des dynamischen Gleichgewichts zwischen Realität und Illusion. Hieß es früher: „Mach dein Ding, aber spiel nach den Regeln“, gelte heute uneingeschränkt: „Anything goes!“ Ohne Selbstbeherrschung, Realismus und Pragmatismus werde sich Amerika aber nicht aus dem gegenwärtigen Delirium befreien können.
Hubert Wetzel: Amerika. Land der unbegrenzten Widersprüche
„Was zum Teufel ist eigentlich los da drüben?“ (S. 8) Um diese Frage zu beantworten, erzählt Hubert Wetzel Geschichten von Land und Leuten, die er während seiner Recherchen traf: den Bergleuten, Cowboys, Sherriffs, den Veteranen und den Geistlichen. Mit viel Verständnis für die Menschen und doch kritisch, aber ohne in einen plumpen Antiamerikanismus abzugleiten, entwirft er ein differenziertes, politisch-kulturelles Portrait und untermalt es mit aussagekräftigen Songtexten. Er beschreibt beides, die Höhenflüge und Abgründe des Landes, das durch die unendliche Weite seine Bewohner frei atmen und zuweilen auch hyperventilieren lässt. Und er erinnert daran, dass Amerika politisch und kulturell weitgehend von Auswanderern geprägt worden ist (S. 21), denen entweder ihre Glaubensfreiheit oder die wirtschaftlichen Möglichkeiten so wichtig waren, dass sie Europa verließen, um neu zu beginnen.
Wetzel will klischeefrei und wahrhaftig sein. Sein Fazit: Die USA stehen aufgrund von Zerrüttung und Dysfunktionalität vor einem sozialen Kipppunkt. Vor allem fehle es an Vernunft und Pragmatismus, darin ist er sich mit Andersen einig. Er bemängelt eine voraufklärerische, unmoderne Geisteshaltung, die durch Hetze und Verdummung gefördert werde (S. 249). Auch Wetzel ist versucht, das „amerikanische Experiment“ als gescheitert zu betrachten, wenn sich die Bewohner nicht wieder auf die innere Stärke und Selbstlosigkeit besinnen, die es einst so groß gemacht haben (S. 255). Dazu müssten die Amerikaner allerdings eines: ernsthaft wollen.
Zum Punkt
Beide Bücher sind inhaltlich und stilistisch bereichernd. Während Andersen seiner These treu bleibt und sie auf unterhaltsame und intelligente Weise zu belegen weiß, bleibt Wetzel eher deskriptiv und liefert wenig Erklärungen für Widersprüche. Das mag seinem persönlichen Stil geschuldet sein, ist aber auch wieder aufschlussreich im Hinblick auf die jeweilige Nationalität und deren typischen Umgang mit der Realität. Es ist eben entscheidend, ob man Amerika von innen oder von außen betrachtet. Selbst- und Fremdwahrnehmung liegen in diesem Fall gar nicht so weit auseinander. Andersen bestätigt und pointiert Wetzels Wahrnehmung in vielen Bereichen, wie Politik, Waffen, Drogen und natürlich die tragende Rolle der Religion.
Bei beiden Autoren spürt man die Liebe zum Land, aber auch die Verzweiflung darüber. Es schreiben zwei eher links orientierte Journalisten, die sich ernsthafte Sorgen um den geistigen Zustand im „gelobten Land“ machen. Beide sind zudem völlig unreligiös und stehen der amerikanischen protestantischen Spiritualität im Allgemeinen kritisch bis ablehnend gegenüber. Als Christ regt diese Literatur zum Nachdenken an und man fragt sich, wann Glaube dynamisch und charismatisch wirkt und wann er problematisch wird. Die Grenzen sind hier fließend, und doch kommt man angesichts der Geschichte Amerikas nicht umhin zuzugeben, dass tiefe Spiritualität eine ureigene Kraft hat, Träume wahr werden zu lassen, aber welche - Albträume oder Wunschträume? Amerika jedenfalls leidet derzeit unter beidem.
Claudia Mohr
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